Soweit ihn die Stiefel trugen

             - eine weihnachtliche Flüchtlingsgeschichte –

 

        

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Christina unterbrach ihre Vorbereitungen zum Fest, sah aus dem Fenster. Draußen fegte ein eisiger Wind, der seltsame Schraffuren im Schnee hinterließ.

Die Straße war kaum beleuchtet, so dass die Schwärze der Nacht die Landschaft mit ihren Häusern verhüllte. Nur die weißen Flächen ringsum boten einen versöhnlichen Kontrast. Christina zog die Vorhänge zu. Zündete die vierte Kerze am Adventskranz an. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass sie noch immer gut aussah, Im sanften Licht der bunten Kerzen wirkten ihre Gesichtszüge weich, die vollen Lippen, das zarte Rot auf den Wangen, ein Hauch von Jugend. Sie löste das hochgesteckte Haar. Es fiel in dunklen braunen Locken auf die Schultern. Nur wenige Silbersträhnchen verrieten ihr Alter.

 

Sie setze sich in den großen alten Sessel, legte die Hände in den Schoß und genoss die wohlige Atmosphäre der warmen Stube. Ein feiner Duft von Tannenzweigen, Bratäpfeln und Zimt erfüllte den Raum.

Manchmal sind es die Gegenstände, die eine Geschichte erzählen, dachte Christina, als ihr Blick an dem robusten Stiefel hängen blieb, der unter anderen Souvenirs auf dem Bord neben dem Kachelofen stand. Ihre Gedanken schweiften weit zurück in die Vergangenheit.

Waren es nicht ein paar Stiefel, die ihr Leben gerettet hatten? Vor vielen, vielen Jahren? Ja, die Stiefel und ihr Träger. Einer der auf der Flucht war. Einer der um sein Leben lief. Dieser blonde große sportliche Mann. Er lachte sie an, dort auf dem Foto an der Wand. Und in diesem Moment wurde er in ihren Gedanken wieder lebendig.

Sie schloss die Augen und spürte wieder seine starken schützenden Arme, Ja, wenn er nicht gewesen wäre, er und diese sagenhaften Stiefel, die wie von alleine liefen und den, der sie angezogen hatte, sicher über Stock und Stein, über die unwirtlichsten Wege und Straßen führte, als würde ein geheimnisvoller Zauber von ihnen ausgehen, sie wäre nicht mehr am Leben.

Das war ihre zweite Geburt.

 Von der ersten wusste sie nichts. Die lag im Dunkeln, irgendwo in einem verlassenen Dorf im Osten. In einer Wüste der Zerstörung. Sie nannten den Ort Nirgendwo. Geboren in Nirgendwo. Keiner wusste, unter welchen Umständen sie gezeugt, wer sie geboren hatte, damals in den Wirren des Krieges.

Aber ihre zweite Geburt und nur sie zählte, die zweite Geburt konnte sie erinnern aus den Erzählungen ihrer Adoptiveltern. An diesem nebelverhangenen Abend wurden sie lebendig, die Erinnerungen: Bei dem flackernden Kerzenlicht, das lange Schatten an die Wände warf und dem leise knisternden Geräusch versank sie tief in die Vergangenheit.

 

Musik

Er war auf der Flucht. Als der Krieg schon fast zu Ende war, gelang ihm die Flucht. Allein und unbemerkt. In der Dunkelheit stahl er sich davon durch das Gestrüpp. Einen Tornister mit Verpflegung, die alte Uniform, die er als Gefreiter trug und die gefütterten Stiefel, mit den robusten Nähten, Maßanfertigung. Das letzte Geschenk von seiner Mutter. Nach einem Sportunfall ließ sie ihm die Schuhe anfertigen. Die Knochenbrüche heilten. Die Schuhe gaben festen Halt. Und bald konnte Christian wieder springen wie zuvor. Bis er dann eingezogen wurde und in russische Gefangenschaft geriet.

 

Dann die Flucht. Laufen, laufen. Durch den Tag, durch die Nacht. Vorbei an Feldern und Wäldern, an Flüssen, verlassenen Dörfern und Gehöften, rauchenden Hütten. Doch immer fand sich irgendwo eine Unterkunft, eine Raststätte, manchmal auch nur ein Stall und etwas Proviant,  warme Kleidung welche von der flüchtenden Bevölkerung zurückgelassen wurde. Die Uniform musste er loswerden. Das hätte gefährlich werden können. Wochen- ja monatelang hatte er mit keiner Menschenseele ein Wort gesprochen.  Das knackende Geräusch von Ästen, wenn er durch die Wälder streifte. Hie und da ein Vogelruf.(musikalisch darstellen?) Sonst Stille ringsumher. Wochenlang. Als wären die Menschen ausgestorben. Und doch, wenn er einem begegnen würde, könnte man ihm trauen? Er suchte sein Zuhause und fand es nicht mehr.

Die Dörfer, an denen er vorüberging, waren ausgebrannt. Dem Erdboden gleichgemacht. Und wenn noch irgendwo etwas erhalten geblieben war, musste man mit den plündernden Horden rechnen. Bevor der Winter und die große Kälte hereinbricht, musste er einen bleibenden Unterschlupf finden, wenn er überleben wollte. Eine leichte Schwäche überfiel ihn. Er verzehrte das letzte Stück Brot, das er bei sich hatte und trank einen Schluck Wasser.

 

Dort in der Ferne am Waldrand entdeckte er eine Hütte. Die musste er erreichen, bevor die Dämmerung einbrach und bevor ihn die letzten Kräfte verließen. Ein eisiger Wind blies ihm um die Ohren. Aber Christian ließ sich nicht unterkriegen, immer das Ziel vor Augen, das stetig näher rückte. Das er dann endlich erreichte. Die Haustüre halb aus den Angeln gerissen, krächzte. Die Dielen knarrten, als er vorsichtig um sich schauend eintrat. Reste einer noch frischen Mahlzeit auf dem Tisch luden den Hungrigen ein. Töpfe und Pfannen auf dem Herd. Das sah nach plötzlichem Aufbruch aus...  Christian wärmte sich etwas von der übrig gebliebenen Mahlzeit, trank ein Glas Wein aus der angebrochenen Flasche, die auf der Kommode stand. Belebende Wärme durchströmte ihn. Er legte ein paar Holzscheite in den Herd, der noch ein wenig glühte. Lange konnten die Bewohner noch nicht unterwegs sein... War es gefährlich zu bleiben? Er war viel zu müde, um nachzudenken, hielt Ausschau nach einem Lager für die Nacht.

 

Da ein Geräusch... Es kam aus dem Stall, auf Zehenspitzen schlich er heran, untersuchte jeden Winkel, aber er fand nur einen Esel und eine Kuh vor halbgefüllten Futterkrippen. Die sind wohl zurückgeblieben... alles sah nach einem hastigen Aufbruch aus. Zwei Tiere standen verlassen in dem großen Stall, der gut Platz für zehn Rinder bot. Christian ging zurück in die Küche, suchte ein Geschirr um die Kuh zu melken. Wieder ein Geräusch. Er erschrak. Was war das? Ein leises Wimmern... er ging der Stimme nach und traute seinen Augen kaum, als er in der Kammer, gleich hinter der Küche einen Säugling gewahrte, der warm verpackt in einem Körbchen lag und zunächst leise, dann immer lauter auf sich aufmerksam machte. Einen Moment lang, glaubte er zu träumen. Das ist ein Wunder, dachte er, das erste menschliche Wesen seit Wochen... oder Monaten? Er drückte das kleine Bündel an sich und herzte es.

In diesem Moment wurde ihm klar, dass er weiterleben wollte, dass es einen Sinn hatte noch einmal anzufangen, etwas aufzubauen... für dieses kleine hilflose Wesen. Das hatte er nicht mehr gewusst in den letzten Wochen, ob es sich wirklich lohnt weiter zu leben. Zu viel Zerstörung, zu viele Trümmer und Tote hatte er gesehen. Und sein Zuhause nicht mehr gefunden.

Als er den Säugling notdürftig versorgt und mit etwas verdünnter Kuhmilch gefüttert hatte, richtete er sich ein Lager für die Nacht und schlief so tief und fest wie lange nicht mehr.

Es war bereits wieder Mittag als er erwachte. Er suchte nach etwas Essbarem, trank heiße Milch und überlegte, was  nun zu tun sei.          

Er ging in den Stall, band das Lasttier los, belud es mit warmen Decken und Proviant und ritt auf dem Esel mit dem Säugling davon.

 

Er wusste nicht wie viel Zeit verstrichen war, als er in der Ferne ein Licht erblickte. Ein Haus, das offensichtlich bewohnt war. Ganz gleich, was ihn dort erwarten würde, er  musste eine Rast einlegen. Die Stiefel trugen ihn nicht mehr, die Sohlen waren durchgelaufen, Christian war hundemüde, der Esel lahmte. Nur der Säugling schlummerte an seiner Brust, in warme Decken gehüllt, als könne ihm alles Elend dieser Welt nichts anhaben. Endlich am Ziel angekommen, zog sein Ziehvater die Glocke, kurz darauf hörte er von innen näherkommende Schritte, die Türe öffnete sich vorsichtig und das erstaunte Gesicht einer jungen dunkelhaarigen Frau blickte ihm entgegen. Er war so erschöpft, dass er nur zusammenhanglose Worte stammeln konnte. Mara, so hieß die fremde Frau, zog ihn in die Stube, nahm das schlafende Bündelchen an sich, versorgte es liebevoll. Christian sank aufs Sofa und schlief ein.

 

Sie konnte es nicht fassen, die junge Frau, dieses unerwartete Glück, das da in ihr Leben hereinbrach. Ein Kind, ein lebendes Christkind, wird ihr in den Arm gelegt. Hatte sie doch allen Mut, alle Hoffnung verloren, als vor drei Monaten diese schrecklichen Nachrichten auf sie niederprasselten, dass ihr Vater und ihr Mann gefallen sind. Kurz vor diesem schrecklichen Krieg hatten sie geheiratet, Mara und Stefan, dieser zielstrebige junge Ingenieur, der so viel Zukunftspläne hatte. Er ist nicht lange bei ihr geblieben. Ein kurzes Glück. Oh, diese entsetzlichen Kriege, die soviel Leid über die Menschen bringen.

 

Und nun sucht einer bei ihr Zuflucht, ein junger Mann, gezeichnet von Entbehrungen und Strapazen der Flucht, dem Zusammenbruch nahe. Nicht einen einzigen Schritt von ihr weg, hätte er noch gehen können, nicht einen. Dieser Heimatlose sucht eine Unterkunft bei ihr. In der Christ- Nacht. Und legt dieses kleine Mädchen, legt es mit letzter matter Kraft in ihre Arme, übergibt es ihr, die nach einer Fehlgeburt keine Kinder mehr gebären kann.

Sie betrachtet den Schlafenden, nimmt wahr, wie die Anstrengung aus seinen Zügen gewichen ist und wie verändert er aussieht, so gelöst und entspannt. Sie möchte jubeln vor Freude.

 

Und Christian, der Flüchtling, der alles verloren hatte, vergeblich seine Angehörigen, sein Zuhause suchte?

 

Als er nach Stunden erwachte, glaubte er zu träumen. Ein Weihnachtsmärchen. Die Stube war geschmückt. Der Christbaum brannte. Ein Glücksgefühl erfasste ihn, wie er es seit langen Jahren nicht mehr kannte. Als er sich erfrischt und den Schlaf aus den Augen gewaschen hatte, stand eine dampfende Suppe auf dem Tisch und die beiden Frauen, Mara und ihre Mutter bereiteten in der Küche den köstlichen Gänsebraten.  (sehr leise weihnachtliche Musik noch einige Sekunden stehen lassen)

 

*

 

Christina erwachte aus ihren traumhaften Erinnerungen. Ja, die Stiefel, lächelte sie, wenn die nicht gewesen wären... Die Stiefel führten den Flüchtling, ihren Vater zu Mara, die ihr eine Mutter geworden ist, wie sie besser keine hätte finden können. Sie betrachtete das Foto, das die schlanke dunkelhaarige Frau von damals zeigte, mit den Augen, die auch heute noch so viel Güte ausstrahlen.  Gedankenverloren stand sie auf, schmückte das kleine Tannenbäumchen, richtete ein paar Geschenke, bereitete das Weihnachtsmahl.

Dann feierten sie Heiligabend, Mara, die immer noch gutaussehende schlanke Frau, deren Haare inzwischen schlohweiß geworden sind, Christina, das einstige Findelkind und ein paar ehemalige Freunde von Christian.

Es war das erste Weihnachtsfest, an dem er nur in Gedanken bei ihnen weilte. Das erste Weihnachten, nachdem er als Flüchtling hier eine Heimat gefunden hatte. An einem Heiligabend.

 

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