Als sie jung war, hatten die Alten das Sagen.

Als sie alt war, waren die Jungen dran.

 

 

          Milchstraße, Sternenhimmel, Nachthimmel

 

LENA

 

»... Danach habe ich nichts mehr verstanden, eine dichte schwarze Mauer aus festem Styropor wuchs rund um mich herum, die mich bis zur Brust von der Außenwelt isolierte.«

 

Diese Bilder aus dem Unbewussten wurden immer mächtiger, ließen sich nicht mehr verdrängen. Styropor ist ein Material, das abdichtet, isoliert, schützt, dachte Lena. Mitten in einer Besprechung mit Herrn Kossalik wurde sie in diese Bilderwelt hineingezogen. Warum? Herr Kossalik, der neue Nachbar, wollte den Phonladen samt Studio kaufen. Sie war dort angestellt. Hatte das Ressort Hörbücher in den letzten zwanzig Jahren aufgebaut. Mit kleinen Verträgen, aber sie sollte später als Mitinhaberin am Umsatz beteiligt werden. Der Chef hatte die Musikaufnahmen betreut und auch den Verkauf der CDs. Plötzlich und unerwartet starb ihr Chef und Inhaber der Phonhandlung. Dass er hoch verschuldet war, wusste sie nicht. Nun stand sie da mit Verträgen, die in keiner Weise ihre Selbstständigkeit und Verantwortung als Lektorin und Produktionsleiterin auswiesen. Sie hatte nur die Versprechungen, die kein Außenstehender kannte. »Abgedichtet«, dachte sie, »von der Außenwelt abgedichtet ...«

 

Natürlich wurde sie auf den CD-Hüllen erwähnt sie hatte ja selbst die Einführungstexte geschrieben. Aber wie sollte sie erklären, dass sie in den Verträgen nur als Assistentin ausgewiesen wurde? Obwohl sie immer selbstständig gearbeitet hatte und verantwortlich für die Produktionen zeichnen musste. Dass kein Geld da war ..., dass sie trotzdem mit viel Engagement bereit war, eine sinnvolle Aufgabe verantwortlich zu übernehmen. Zwanzig Jahre lang. Das war der Punkt des Anstoßes. Zwanzig Jahre. Das ist unglaubhaft, grübelte sie. Die Zeit ist so schnell dahingegangen und damit ihre besten Jahre. Lena war verzweifelt. Wahrscheinlich würde ich mir selbst auch nicht glauben, wenn ich an Kossaliks Stelle wäre, entschuldigte sie das Misstrauen des neuen Kaufinteressenten. Mitten in der Besprechung mit ihm drängten sich die Bilder aus dem Unbewussten in ihr Bewusstsein und störten ihre Konzentration ... Sie war wie traumatisiert. Herr Kossalik bemerkte ihre Unpässlichkeit und versprach, die Unterredung ein anderes Mal fortzusetzen.

 

Was ist, wenn er mir nicht glaubt, sinnierte Lena. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Das kann doch nicht alles verloren sein, ich habe doch mein Können, meine Kräfte investiert. Das muss sich mit der Zeit doch rentieren.

 

Es war in den Jahren nach dem Krieg, sie war gerade dreiundzwanzig geworden, hatte ihr Abitur und eine Ausbildung als Schauspielerin. Viele Berufsmöglichkeiten gab es nicht in der damaligen Zeit. Die Abiturientinnen strebten meist einen Beruf als Lehrerin oder Bibliothekarin an. Sie studierten an der Universität oder an der Pädagogischen Hochschule. Eine Schauspielakademie gab es damals nicht in der Stadt, aber das Kultusministerium bot die Möglichkeit, nach einem externen Studium an Theater, Uni und mit autorisierten Schauspiellehrern eine Bühnenreifeprüfung zusammen mit den Opernklassen der Musikhochschule abzulegen. Lena war unter den vieren von zwanzig Bewerbern, welche die Prüfung für Schauspiel bestanden hatten. Sie sah gut aus war schlank, hatte dunkle Augen und dunkelblonde leicht gewellte Haare, die ihren Nacken umspielten und lose auf die Schultern fielen. Sie hatte Temperament und verfügte über Phantasie. Sie hätte alle gängigen Rollen von der Klassik bis zur Moderne spielen können, als sie Herrn Beste, den Inhaber des Phonstudios, kennen lernte. Er bot ihr an, bei ihm anzufangen, die Aufnahmen mit den Schauspielern und Literaturprofessoren zu produzieren. Hörfolgen, Lyrik und Prosa, Lesungen und Vorträge. Gedichte könne sie ja auch selbst sprechen. Das alles zusammen wäre doch aussichtsreicher und vielseitiger, als von einem Theater zum anderen zu ziehen. Immer auf der Suche nach einem neuen Engagement. Sie ließ sich überreden. Versuchsweise, dachte sie. Das Aufgabengebiet war reizvoll und ausbaufähig. Ein Nomadenleben lag ihr ohnehin nicht sehr. Zudem lebte sie nach dem zweiten Weltkrieg in Süddeutschland, in der französisch besetzten Zone. Da gab es nicht viele Ausweichmöglichkeiten, sich einen Arbeitsplatz zu suchen. Der zunächst geringe Verdienst im Phonstudio sollte mit den Jahren aufgestockt werden.... Was wollte sie mehr? In jenen Jahren wohnte sie bei ihren Eltern. Das hatte Herr Beste empfohlen. Auf diese Weise fiel schon einmal die Miete weg. Tagsüber war sie ohnehin in den Aufnahmestudios oder saß im Büro, bearbeitete Texte, bereitete die Produktionen vor, mit allem, was dazugehörte, telefonieren und die Post erledigen. Sie durfte das Sekretariat des Chefs in Anspruch nehmen. Was brauche sie eine eigene Wohnung, wenn sie ohnehin nur zum Schlafen zu Hause sein kann? Man muss doch froh sein, heutzutage eine so interessante Arbeit zu haben ... Das würde sich doch kein Schauspieler oder Regisseur zweimal überlegen. Solche und ähnliche Sätze bekam sie dauernd zu hören.

 

Freilich das Privatleben kam zu kurz. Aber was ist schon privat? Das wusste sie schon gar nicht mehr. Das war doch gar nicht zu trennen. Sie arbeitete nicht nur im Studio, nein, sie lebte dort. Und war es nicht ein erfülltes Leben?

 

Vielleicht waren es die Begegnungen, die das wirkliche Leben ausmachten, der Austausch der Worte, die hie und da in einem anderen Menschen weiterlebten, ihm halfen in einer schwierigen Situation oder einfach den Reifeprozess in Fluss brachten im Aufeinandertreffen der Meinungen und Gedanken, die sich gegenseitig befruchten und immer wieder neue Ideen erzeugen. Das ist Entfaltung von Leben, einbezogen in den großen Kosmos des Lebens. Das Leben des Einzelnen ist wie ein Blatt ...

 

Nein, ganz zufrieden war sie nicht. Man muss doch auch Geld verdienen, um sich und vielleicht auch einmal andere versorgen zu können. Warum gelingt mir das nicht? Herr Beste und vor allem sein Geschäftsführer waren der Meinung, dass Geldverdienen »Männersache« sei. »Sie haben das doch gar nicht nötig, sehen doch gut aus. Heiraten Sie. Dann ist die finanzielle Seite geklärt. Solche Sprüche wurden immer wieder aufgetischt. Sie gehörten sozusagen in das Konzept der geschäftsführenden Problemlösung. »Sind ja selbst schuld, wenn Sie kein Geld haben. Warum lachen Sie sich nicht einen Freund an.« Und wenn sie nicht nachgeben wollte, eine andere Meinung, als er behauptete, dann kamen Versprechungen, immer wieder Versprechungen ... Man müsste eben Geduld haben, das ginge alles nicht von heute auf morgen, man müsste diplomatisch sein. Wenn wir Ihre Tätigkeiten in den Vertrag aufnehmen würden, das käme viel zu teuer und man müsste deshalb den Vertrag wieder kündigen. Keiner würde doch eine Frau mit diesen hochwertigen Tätigkeiten einstellen. Unseren Förderern und dem Kulturrat gegenüber müssen wir das doch vertreten.

 

Warum nur konnte sie diesen zerstörerischen Kreislauf nicht durchbrechen? In all den vielen Jahren nicht. Das war nicht vorauszusehen, nicht für sie. Lena geriet in eine Identitätskrise. Sie wurde schwer krank. Entwickelte Symptome einer lebensbedrohenden Krankheit. Erholte sich wieder. Schöpfte neue Hoffnung.

 

Den Arbeitsplatz wechseln? Wo könnte sie sich bewerben mit den Verträgen, die nicht ihre tatsächlichen Tätigkeiten auswiesen? Und wo würde sie eine Arbeit finden, die so vielseitig wäre? Das war das Problem. Weder am Theater noch in anderen Studios hätte sie das gefunden. Weibliche Redakteurinnen, Dramaturginnen, Regisseurinnen passten nicht in das Frauenbild der damaligen Zeit. Wenn man so einen Arbeitsplatz ergattern kann, gibt man ihn doch nicht auf! Damals gab es keinen, der sie und ihre Arbeit kannte und dennoch geraten hätte, eine neue Stelle zu suchen. Nein, davon hatten alle, die sie um Rat gefragt hatte, abgeraten.

 

Es war eine Zeit des Aufbruchs, des Aufbaus, eine Zeit der Hoffnung nach den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Wie oft hatte man Kriegsdienste in Familien oder bei der Landarbeit geleistet, ohne auch nur einen Pfennig zu verdienen. Nur fürs tägliche Brot, in einer Zeit, in der viele hungerten, manche verhungerten. Als die Schule ausgebombt wurde und die Schülerinnen zum Kriegsdienst verpflichtet wurden. Obwohl die Eltern damals noch Schulgeld bezahlten für den Besuch der Mädchen-Oberrealschule.

 

Nein, in jener Nachkriegszeit hatte ihr kaum einer geraten, ihren Arbeitsplatz zu wechseln. Im Gegenteil, wenn sie diesen Gedanken einmal äußerte, setzten Herr Beste und sein Geschäftsführer alles daran, Lena zum Bleiben zu überreden. Und nicht nur ihre Chefs, auch die ständigen Autoren, Professoren, Kunstkritiker und Künstler, mit denen sie zu tun hatte, rieten, einen solchen Platz nicht aufzugeben. Sie könnte sich weiterbilden, nebenher noch ein theologisches Kurzstudium absolvieren, das würde sie doch leicht schaffen, riet der damalige Direktor der Katholischen Akademie.

 

Lena widmete sich in ihrer Freizeit nicht nur den theologischen Studien, sie begann bald darauf eine grafologische Ausbildung, die ihr ein anschauliches psychologisches Wissen vermittelte. Ein Professor für Psychologie meinte, sie könne bei ihm auch als Psychotherapeutin, Kunsttherapeutin und Grafologin arbeiten. Er war übrigens der Einzige, der ihr dringend riet, den Platz im Studio aufzugeben. Aber die weitgehend künstlerischen Aufgaben im Studio lagen ihr mehr. Die erworbenen psychologischen Kenntnisse konnte sie für die Hörspielbearbeitungen und die Regie der Spiele sehr gut gebrauchen. Hinter den verschiedenen Stimmen verbargen sich ja Personen mit unterschiedlichen Charakteren. Um diese im Einzelnen herauszuarbeiten, war es sehr hilfreich, wenn man die Funktionstypen nach C. G. Jung und seiner Schule kannte. Lena pflegte außerdem Kontakte zu einer Schauspielschule in Heidelberg und belegte Sommerkurse für »Szenisches Spiel« und »Sprechchöre mit Musik« am Orff-Institut in Salzburg. Obwohl man ihr sagte: Sie haben doch schon die Bühnenreife, was wollen Sie hier denn noch lernen? Mehr können Sie hier in Salzburg auch nicht erreichen. Aber die Arbeitsbedingungen im Studio hatten ihr Selbstbewusstsein untergraben. Herr Beste war etwas nervös, als sie ans MOZARTEUM ging, nervös wurde er immer, wenn er auch nur im Entferntesten eine Gefahr witterte, dass er sie vielleicht auch verlieren könnte. Sein Geschäftsführer dachte, sie könne dort noch etwas dazulernen, aber der hatte wenig Ahnung von Darstellender Kunst, glaubte, das habe lediglich etwas mit Sprechtechnik zu tun. Lena dachte, einige Anregungen habe ich in Salzburg durchaus bekommen. Zum Beispiel in den Inszenierungen mit Professor Keller, dem Leiter der Sommerakademie, und mit Claus Thomas, der noch persönlich mit Carl Orff gearbeitet hatte und in jenen Jahren alle wichtigen Inszenierungen des beliebten Komponisten betreute. Die hatte sich Lena natürlich angesehen. Nun kommt es darauf an, wie ich sie umsetzen kann, diese Anregungen. An Ideen fehlte es ihr nicht. Sie war manchmal richtig geplagt mit ihren vielen Phantasien und oft verzweifelt, dass sich nicht alle realisieren ließen.

 

Lena stürzte sich immer intensiver in die Arbeit und verdrängte das derzeitig unlösbare Problem, dass man ja auch in adäquater Weise Geld verdienen sollte. Genau genommen blieb ihr kaum Zeit, um darüber nachzudenken. Und schließlich war damals alles im Aufbau, warum sollten sich die Missstände nicht ändern? Missstände sind dazu da, dass sie mit der Zeit behoben werden. Sie beachtete nicht, dass in jener Zeit, in der sie mit einem Hungerlohn abgespeist wurde, Geld übrig war, um Grundstücke zu kaufen, auf denen später Dienstwohnungen gebaut wurden. Das stand in krassem Gegensatz zu den immer wieder beschworenen finanziellen Schwierigkeiten ... Es ist besser, ich denke nicht so viel darüber nach. Man muss die Dinge ruhen lassen, die man doch nicht ändern kann ...

 

Das Läuten an der Tür riss Lena aus ihren Überlegungen. Der neue Nachbar, Geschäftsführer der Buchhandelskette, die den Phonladen und das Studio übernehmen wollte, begehrte ungeduldig Einlass. Entschlossen stand Lena auf und führte ihn herein.

 

Glücklicherweise war sie heute in guter Verfassung und konnte, während sie Kossalik durch das Studio und ihr Büro führte, die wichtigsten Titel ihrer Produktionen vorstellen und, was ihr selten gelang, ihre bisherige Tätigkeit ins rechte Licht setzen. Während der darauffolgenden Unterredung stellte sich schnell heraus, dass der »Neue« die bisherige Mitarbeiterin übernehmen würde. Er müsse sie natürlich erst an ihrem Arbeitsplatz kennen lernen, erwähnte er einschränkend. Lena empfand das als Kränkung und meinte, kennen lernen könne er ihre Arbeit doch auch, wenn er sich die vorhandenen Produktionen anhören und die Texte auf den Hüllen lesen würde, mit denen die CDs präsentiert wurden. Zwanzig Jahre Arbeit stecken in ihrem Gepäck, darauf möchte sie aufbauen können. Sie werden mir doch nicht zumuten, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Nun, es kam zu einem Kompromiss. Wir werden neu beginnen,  auch manches ändern, wie es der Zeitgeschmack und die Rentabilität unseres Unternehmens erfordern, aber wir werden das mit Ihren Erfahrungen tun. Ich denke, Sie können da viel mit einbringen.

 

Das konnte Lena. Ihre Verträge wurden angehoben, wenn auch bei weitem nicht so, dass sie die Qualifikation der engagierten Frau berücksichtigten. Herr Kossalik war ein dynamischer Typ, blond, groß, sportlich, hatte viel für Kunst und Literatur übrig, war aber in erster Linie Geschäftsmann und ein äußerst geschickter Verhandlungspartner. In kurzer Zeit brachte er das verschuldete Studio wieder auf Vordermann. Die Einnahmen stiegen, man konnte die Technik modernisieren und noch einen zweiten Toningenieur engagieren. Und eine Referentin für die Musikaufnahmen. Das Studio erlebte eine Blütezeit, die etwa zehn Jahre andauerte, dann aber durch die steigenden Produktionskosten wieder in einen finanziellen Engpass geriet.

 

Wieder waren zwanzig Jahre vergangen. Lena hatte längst eine große eigene Wohnung mit einem traumhaften Ausblick in die Natur. Bäume, Vögel, Eichhörnchen waren ihre ständigen Nachbarn, wenn sie über ihr Leben nachdachte. Und das tat sie oft, seit sie nicht mehr ins Studio ging.

 

Sie erwartete ihr Patenkind. Pauline, gerade fünfzehn geworden, interessierte sich brennend für ihre Tante, ihr Leben, ihren Beruf. Das junge Mädchen hatte früh seine Eltern verloren, war im Waisenhaus groß geworden. In ihrer Nachbarin Lena fand sie eine Lebensfreundin, bei der sie sich immer mehr zuhause fühlte. Pauline wollte Erzieherin werden und besuchte die sozialpädagogische Fachschule, die sich gerade im Haus neben der Wohnung ihrer Förderin befand. Und nun wurde sie nicht müde, zuzuhören, und stellte Fragen über Fragen. Dadurch ist mir meine eigene Lebensgeschichte erst richtig bewusst geworden, sagte Lena. Schreib sie auf, deine Geschichte, ich möchte sie immer lesen können, auch wenn ich nicht in deiner Nähe bin. Du hast die Jahre bei Kossalik nur gestreift, da ist doch bestimmt viel Spannendes passiert ... ich will das wissen, ganz genau, dann wird dein Leben auch ein Stück von mir und bereichert mich. Du musst deine Biografie schreiben ... Du musst!

 

Meine Biografie, das Warten, das ewige vergebliche Warten auf Anerkennung im Beruf. Die Suche nach einem Partner, der nicht das »Heimchen am Herd« oder die Hilfsassistentin braucht, sondern eine gleichwertige Partnerin. Mit der man etwas Neues aufbauen kann. Die Synthese von männlicher und weiblicher Sicht. Schreibend könnte ich auch den ungelebten Möglichkeiten eine Chance geben und meine Geschichte würde positiver ausgehen.

 

Und ich hätte so gerne gewusst, wie dein Leben wirklich gelaufen ist. Du hattest doch ein interessantes, ungewöhnliches Leben!

 

Aber Lena wusste plötzlich, dass sie es ein zweites Mal nicht mehr erleben möchte. Nein, dazu fehlte ihr die Kraft. Es würde sie in die Selbstzerstörung treiben. Nein, ein zweites Mal nicht, einmal war schon zu viel, dachte sie und sagte, ich werde die Geschichte versöhnlicher zu Ende bringen.

 

Pauline sah sie ungläubig an. Aber ihre Neugierde war größer. Und die Liebe?

Die Liebe ... Sie kommt in deiner Erzählung gar nicht vor. Du erwähnst nur dein berufliches Leben. Warst du nie verliebt?

 

0 doch, als junges Mädchen war ich oft verliebt. Und immer hatte ich Angst, dass das Verliebtsein nicht reicht, bis »dass der Tod uns scheidet«. Ich war sehr religiös ... Eine Scheidung hatte in meinem Denken keinen Platz. Gab es keine ernsthafte Beziehung? Du stellst Fragen ... Die Liebe ist doch das Wertvollste, was es für uns Menschen gibt. Sie kann auf verschiedene Weise gelebt werden.

 

Wie meinst du das? Die Liebe fließt in dein Leben und Wirken ein. Ein Liebender trifft andere Entscheidungen als einer, dem sie fremd ist. Liebe ist eine Haltung, ein Verhalten dem Leben gegenüber. Du weichst mir aus. Ich meine, du hattest doch auch Begegnungen. War nicht eine darunter, die dir mehr bedeutet hat als alle anderen?

 

O doch ... Und?

 

Ich habe sie nur als Schmerz, als unstillbare Sehnsucht erfahren ... als die Erkenntnis, dass wir den Anderen nie ganz erreichen. »Die Nähe ist es nicht ...... und nicht die Ferne«, fiel Pauline ein. Leise, als spräche sie nur zu sich selbst, ergänzte Lena: In der Liebe und im Tod erfahren wir die Einsamkeit unseres Menschseins.

 

Sie schwiegen eine Weile. Die Dämmerung zog herauf. Pauline kroch aufs Sofa zu Lena und kuschelte sich an ihre Seite. Die Nacht legte sich sanft wie ein schützender Schleier über ihren Schlaf.

 

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