Sturzprophylaxe * Erinnerung an Vera * Auch der halbe Mond ist schön
Kindliche Existenzangst * Kinderparadies * Missgunst einer Lehrerin
Geschwisterliebe * Das sechste Gebot
* Die improvisierte Tragödie
Das kleine Wunder * Der geizige Milchmann * Der tiefe Eindruck
Wachen und Traum * Assoziationen
Nach ihrem 80. Geburtstag ist es zum ersten Mal passiert, dass Monika
gestürzt ist. Über einen Stein gestolpert? Ausgerutscht? Nein, einfach so, sie
ist einfach so hingefallen. Weil die Gelenke nicht das machen wollten, was sich
der Kopf ausgedacht hat.
„Jetzt ist es an der Zeit, etwas dagegen zu tun“,
dachte sie und meldete sich im Seniorenheim, einige Straßen von ihrer
Wohnung entfernt, für eine Gymnastik an, die als Sturz-Prophylaxe angeboten
wird.
Sie schwingt sich auf ihr Fahrrad und fährt dorthin. Am Ziel
angekommen, geschieht das Unglück. Beim absteigen bleibt sie mit der Jacke am
Sattel hängen und stürzt. Doch da ist gleich ein freundlicher älterer Herr zur
Stelle, der ihr wieder auf die Beine hilft. „Noch mal Glück gehabt“, meint sie
und atmet erleichtert auf. Aber bevor sie sich bei ihm bedanken kann, ist der
liebenswürdige „Helfer in der Not“, samt ihrer Handtasche verschwunden.
oder
Die
Suche nach dem Selbst:
Nach der Trennung von ihrem Partner blieb Vera
allein. Sie war viel auf Reisen, lernte viele Städte und Menschen kennen.
„Die interessanteste Entdeckungsreise ist die Reise
nach innen“, meinte sie, „ich entdeckte mich selbst, und zwar so, wie ich mich
zuvor nie gekannt habe.
Wie soll mich ein anderer kennen und verstehen, wenn ich mich selbst nicht kenne?
Also machte ich mich auf nach dem unbekannten Wesen, das tief innen in mir
schlummert“.
Vera machte einen harmonischen und ausgeglichenen Eindruck
auf mich. Sie sprach leise, versonnen, fast wie zu sich selbst:
„Du bist allein - überall allein – an allen Orten
allein. Nie sieht dich ein anderer so, wie du wirklich bist. Du bist im Grunde
immer allein, an allen Orten allein.
Aber jeder Ort hat seine Farbe, seinen Duft, seine
eigene Stimmung und seine ganz individuelle Einsamkeit. So bist auch du eine
andere. Entdeckst dich an jedem Ort neu. Manchmal bist du dir fremd an fremden
Plätzen.
„Vielleicht brauche ich gar nicht alles zu
erleben“, fuhr Vera nach einer Weile fort, „ich hab´ ja alle Möglichkeiten in
mir. Man muss sie nur zu Ende denken.
Fiktiv erleben. Wir sind
schließlich nicht nur Materie.
Ob innen oder
außen? Wo liegt da der Unterschied?
Die Intensität der Vorstellung ist´s, die uns erlebnisfähig macht.
Sie entscheidet, ob wir glücklich oder unglücklich sind.“
Ich habe Vera
nie mehr getroffen. Aber ihre Worte sind in mir
lebendig geblieben.
***
Biographische
Notizen eines unvollkommenen Lebens
Kindheitserinnerungen
(überarbeitete
Fassung)
„Seht ihr
den Mond dort stehen?
Er ist nur halb
zu sehen.
Und ist doch
rund und schön!
So sind wohl
manche Sachen,
die wir getrost
belachen,
weil unsre
Augen sie nicht sehn.“
Text: Matthias Claudius
Die Sehnsucht
nach Vollkommenheit war in mir seit ich denken kann. Und da das Vollkommene
selten gelingt, suchte ich Trost bei einem alten Freund und Lehrer, der mir
versicherte: „Auch der halbe Mond ist schön.“
„Das Leben, ist
ein Traum“ dachte ich in jungen Jahren.
Grillparzers
Schauspieltitel „Das Leben, ein Traum“ entsprach ganz meinen Erwartungen.
Heute würde ich
ihn korrigieren, diesen Titel: „Das Leben, ein Fragment“.
Oder ist es nur
unsere Erinnerung, die lückenhaft ist?
Oder unsere
mangelhafte Erkenntnis des Geschehens?
Wie es Matthias Claudius in seinen Versen andeutet?
Neulich fand
ich ein Foto, das eine Schulklasse mit Sextanerinnen zeigt. Es dauerte eine ganze
Weile, bis ich mich mit dem kleinen Mädchen mit den dicken blonden Zöpfen
identifizieren konnte. Meine Mitschülerinnen waren mir vertrauter.
Ich war mir
selbst fremd geworden. Nicht so sehr die Empfindungen und Gefühle des kleinen
Mädchens. Aber das äußere Erscheinungsbild. Mein Körper war mir fremd geworden.
Kindliche Existenzangst
Eine Erinnerung
reicht in früheste Kindheit zurück:
Ich liege in
meinem Bettchen, es ist dunkel. Als der Morgen
dämmert, entdecke ich, das Bett neben mir, das Bett meiner Mutter, ist leer.
Ich habe große Angst.
„Wenn man tot
ist, wird man unsichtbar“, glaubte ich.
Diese
Erinnerung an die Existenzangst des kaum zwei Jahre alten Mädchens ist so
gegenwärtig, als hätte ich sie gestern erlebt. Wie eine scharfe Momentaufnahme,
die aus dem Nebel der Vergangenheit auftaucht.
Danach drängen
sich freundliche Erinnerungen auf an
Weihnachts- und Geburtstagsfeiern, an Spaziergänge mit dem Vater, der uns
Kinder gerne in ein „Wirtschäftle“, einlud.
Mein zwei Jahre
jüngerer Bruder Hubert und ich, wir hatten immer Durst und Appetit. Und damals
gab es so feine mürbe Butterstangen und Brezeln. Nie im ganzen Leben habe ich
sie wieder gefunden, diese feinen Butterstangen mit Salz und Kümmel und die
knusperigen Brezeln. Sie gehören in das verlorene Kinderparadies.
Dann kam der
erste Schultag. Ein einschneidendes Erlebnis. In freudiger Erwartung saß ich in
meiner Schulbank. ‚Ich strahle Zuversicht aus‘, meinte die freundliche Lehrerin
und setzte ein ängstlich weinendes Mädchen neben mich.
Zum achten
Geburtstag schenkten mir die Eltern ein Poesie- Album. Eine Schulfreundin
kritzelte den Spruch hinein:
„Genieße still
zufrieden
Den sonnig´ heiteren
Tag,
Du weißt nicht,
ob hienieden
ein gleicher
kommen mag.“
Aber die Schule
war nicht immer lustig. Die gut behütete heile Kinderwelt bekam schnell ihre
Risse. Ich erlebte, dass es auch Missgunst und Ungerechtigkeit in der Welt
gibt. Und dass die Welt der Erwachsenen nicht immer „vorbildlich“ ist.
Es war im
Schwimmunterricht. Ich konnte das kalte Wasser nicht vertragen, fing an zu
frösteln, meine Hände und Füße waren nicht mehr durchblutet, die Lippen
bläulich angelaufen.
Mit
unverhohlenem Spott, kritisierte die Turnlehrerin die mühsamen Schwimmversuche
des zitternden kleinen Mädchens. ‚Sie müsse mit meiner Mutter sprechen, wegen
meiner untauglichen Sportlichkeit.‘
Meine Mutter
maß diesem Gespräch nicht viel Bedeutung bei, sie wusste wie gelenkig ihre
Tochter war und sie kannte die Turnlehrerin. Sie kommentierte diese Unterredung
lediglich mit der Erklärung „Deine Turnlehrerin war eine Mitschülerin von mir.“
Plötzlich begriff ich, die ehemalige
Mitschülerin gönnte ihr die Tochter nicht.
Nach dieser
schockierenden Verletzung durch „Ungerechtigkeit“, die mir von einer
Erwachsenen zugefügt wurde, geschah etwas, was einen heilsamen Einfluss auf
mein kindliches Gemüt ausübte.
Ein junger
Priester, ein Nachbar unserer Familie, feierte seine Primiz in unserer
Pfarrkirche. Für das kleine Mädchen war es, als würde sich der Himmel öffnen in
eine viel bessere „Göttliche Welt“.
In mir wuchs
eine Sehnsucht, die mich bis ins hohe Alter nicht verlassen hat.
„Hebe deine Augen“
Engelsterzett a. d. Oratorium „Elias“ von Mendelssohn
Sehr dominant
ist die Erinnerung an meine erste kindliche Liebe.
„Brüderchen komm tanz mit mir…“ a.d.
Oper „Hänsel u. Gretel“
v.
Humperdinck
Meine erste kindliche Liebe galt meinem zwei
Jahre jüngeren Bruder Hubert. Wir bekamen ein schönes Kinderzimmer, ich hatte
mein Bettchen auf der rechten Seite, er auf der linken. Dazwischen stand ein
kleiner Nachttisch. Mein Bruder hatte immer wieder neue Einfälle, wie unsere
Abende vor dem Einschlafen zu kleinen Abenteuern mit Kissenschlachten und
spannenden Erzählungen wurden. Das Licht wurde zeitig ausgemacht aber mein
treuer Spielgefährte hatte in einem kleinen Trödlerladen ein Spielzeug, ein
kleines Flugzeug erstanden, dessen Lämpchen gerade so viel Licht verbreitete,
dass eine spannende Atmosphäre, uns in eine fantastische Welt zwischen wachen
und träumen entführte. Und wir hatten unsere Geheimnisse.
Der Flieger
wurde auf Pump gekauft und in Raten abgestottert, da das Taschengeld nicht
ausreichte, ihn gleich ganz zu bezahlen. Der Krämer meinte: „Das komme ihm aber
verdächtig vor.“ Ich hatte mir entsetzliche Sorgen gemacht, deshalb.
„Hoffentlich
kommt mein Bruder nicht auf die schiefe Bahn“, wenn er nun „verdächtig“
geworden ist.
„Das auf Pump
kaufen“ war mir unheimlich. Ich war überhaupt viel vorsichtiger und
ängstlicher, nicht so unternehmungslustig wie mein Bruder.
Der Trödler war
übrigens ein Original, das aus einem Gemälde von Carl Spitzweg stammen könnte:
eine stattliche Figur mit einem dicken Bauch, einem runden Kopf, auf dem sich
spärlich rötlichbraune Haare sträubten, mit kleinen
neugierigen Augen hinter einer randlosen Brille, die auf seiner dicken langen
Knollennase notdürftig Halt fand.
Dieser kauzige
Ladeninhaber hatte u.a. so wunderbare kleine Bälle, fast so groß wie
Tennisbälle. Aber in unvergleichlich herrlichen Farben.
Diese
Zauberbälle wollten wir uns gegenseitig zum Geburtstag schenken. Das hatten wir
an den Abenden besprochen und uns danach ganz fest versichert, die vorzeitig
ausgeplauderten Geschenk Ideen wieder zu vergessen, damit es dann doch eine
Überraschung werden kann.
Auf solche und
ähnliche Weise wurden unsere kindlichen Probleme in den abendlichen
Erzählstunden vor dem Einschlafen gelöst.
Musik: Abendsegen a. d. Oper „Hänsel und
Gretel“
In dieses
Kinderparadies platzte wie eine Bombe, der eindringliche Rat einer Tante, die
immer wieder damit anfing, dass es nicht gut wäre, wenn Buben und Mädchen
zusammen im gleichen Zimmer schlafen. Wir waren erst 7 und 9 Jahre alt und ich hatte keine Ahnung, warum das so sein
soll.
Warum hat man
Geschwister, wenn man dann doch alleine bleiben muss?
Eine verrückte
Welt, in die man da hineingeboren wurde.
Diese
Überzeugung verstärkte sich, als ich mit 9 Jahren Beichtunterricht bekam.
Besonders unverständlich war das 6. Gebot, das sich wiederum in zahlreiche
Einzelsünden gliederte. Man durfte weder sich selbst noch andere mit „Lust“
ansehen. Schon das „daran denken“, war Sünde.
Ich versuchte
nun die Morgenwäsche mit halb geschlossenen Augen zu vollziehen. Beim Baden war
das noch viel schwieriger und gelang selten. Auch hatte ich große Freude meinen
Körper anzusehen. Und das war nun aus völlig unerklärlichen Gründen verboten.
Um ja nichts falsch zu machen, hatte ich die ganze Sündenliste des 6. Gebotes
auswendig gelernt, genauso wie sie im Beichtspiegel stand und habe alles, was
ich nicht ganz verstanden habe, vorsorglich gebeichtet
Diese Zeremonie wiederholte sich so lange, bis
ein Beichtvater mein Sündenregister mit den Worten unterbrach „ob ich ihn auf
den Arm nehmen wolle?“
Eine gute Seite
hatte der Beichtstuhl aber doch. Man konnte leicht Kontakt aufnehmen. So
beendete ich meine Beichte bei dem freundlichen Kindervikar einmal mit den
Worten:
„Bei uns zu
Hause wird morgen eine Tragödie aufgeführt, zu der ich Sie gerne einladen
möchte“
„Eine
Tragödie?? fragte er zurück.
„Ja“, sagte
ich.
„Lust“-Spiele
waren mir nach den Erfahrungen mit dem Beichtspiegel zu riskant. Deshalb erfand
ich nach eigenen Ideen ein Trauerspiel. Mein Vorbild war die Tragödin Eleonore Duse.
Nach vielen
Sprech- und Kostümproben aus Mutters Kleiderschrank, kam diese Tragödie, unter
Mitwirkung meines zwei Jahre jüngeren Bruders zur Aufführung.
Wieder war es
die Tante, die das ganz unmöglich fand, einen
„geistlichen Herrn“ einzuladen. In den nur spärlich beleuchteten
Korridor!
Der uns Kindern
aber wie geschaffen für einen Zuschauerraum im Theater schien. Dieser Korridor
mündete in einen zweiten kleinen Vorraum, der quer zum dunklen Gang verlief und
seitlich durch ein kleines Fenster, ideale Lichtverhältnisse für unsere Bühne
bot. Der Türrahmen, ohne Türe, der die beiden Räume trennte, wurde mit einem
Vorhang versehen.
Und wenn mich
meine Erinnerung nicht trügt, war das geladene Publikum. einschließlich des
„geistlichen Herrn“ zwar nicht zu Tränen gerührt aber doch sehr amüsiert von
unserer Vorstellung.
Der jüngste Bruder
saß ebenfalls unter den Zuschauern und kann sich heute noch daran
erinnern.
Als er dann,
Jahre später das ehemalige Bertolds- Gymnasium besuchte. unterhielt er die
ganze Familie mit irrsinnig komischen „Schulszenen á la Feuerzangenbowle“, in
denen er das Figuren-Kabinett der originellsten Lehrer aufmarschieren ließ und
„spielend“ karikierte. Schier unauslöschlich ist die Erinnerung an einen Pauker
mit dem Spitznamen „Ätzer“. Seine schlechten Erfahrungen in seiner Ehe flossen
in den Unterricht ein. So konnte er es nicht lassen, seine Schüler immer wieder
eindringlich vor dem großen „Übel der Ehe“ zu warnen:
„Buben, heiratet nicht!“
Viel gefruchtet
hat diese Warnung nicht, wie sich dann später herausstellte.
Jene frühen Jahre der Kindheit und Jugend
wurden überschattet von Kriegs- und Nachkriegszeit. Letztere behielten wir
Kinder, meine zwei Brüder und ich als kalte „Hungerjahre“ in Erinnerung.
Im Winter,
morgens das gefrorene Wasser in den Waschkrügen.
An den Fenstern
phantastische Eisblumen. Der dampfende Atem aus unseren Mündern erinnerte mich
an das Zitat aus dem Schöpfungsbericht der Bibel:
„Gott hauchte dem Menschen eine Seele ein.“
Und jetzt zieht
uns die Kälte die Seele aus dem Leib, dachte ich. Mit klammen Händen versuchen
wir die erloschene Glut im Ofen wieder anzufachen. Der Vorrat an Holz und Kohle
reicht nicht aus, um die ganze Nacht die Kälte aus dem Raum zu verbannen.
Unsere Finger und Zehen werden rot und schwellen an. „Frostbeulen“, sagt der Arzt.
Dann Tagsüber das schaurige Krächzen
der Raben. Auch wir haben Hunger. Aber wir schreien nicht. Lutschen heimlich an
den Eiszapfen, die an den Fensterläden herunterhängen und in der Sonne wie
Diamanten glitzern. lassen Schnee im Mund zergehen, hoffen, er könne den
Hunger ein wenig stillen.
Die kärglichen
Brot– und Milchrationen, die auf Lebensmittelmarken zugeteilt wurden, ließen
unsere hungrigen Mäuler nicht satt werden. Ab und zu mussten wir bei den Bauern
in der Umgebung Brot und Kartoffeln „hamstern“, um die spärlichen Rationen
etwas aufzubessern.
Meist bekamen
wir nur Viehrüben. Geld hatte seinen Wert verloren. Wer keine Ware zum „Tausch“
anbieten konnte, wurde mit den Rüben abgespeist, die den Schweinen verfüttert
wurden.
Bei diesen
Hamstertouren traf man manchmal recht wunderliche Gestalten. Ich erinnere mich
an eine hagere, abgehärmte Frau, die beharrlich von einem Bauernhof zum anderen
zog und immer die gleiche Geschichte auftischte, nämlich, „dass ihr in der
Nacht der „Heilige Antonius“ erschienen sei. Der habe mit resoluter Stimme
befohlen:
„Dieser Frau
muss geholfen werden!“
Und ist es
nicht ein kleines Wunder?
Das
Herunterleiern ihrer Litanei blieb nicht erfolglos. Ich erlebte, wie eine
Bäuerin, ohne eine Miene zu verziehen in den Keller hinunterstieg, wo die
wöchentlich frisch gebackenen Brotlaibe in den Regalen gestapelt lagen, sie
holte einen Laib, zeichnete mit dem Brotmesser ein kleines Kreuz darauf und schnitt eine
ansehnliche Scheibe ab und legte noch ein tüchtiges Stück von dem frisch
geräucherten Speck dazu. Beides verschwand sogleich im Sack der Bettlerin.
Als ich ihr am
Abend wieder begegnete, war ihr Bettelsack prall gefüllt
Musik: „Ach wir armen, armen Leute..“ a. Hänsel und
Gretel
Die Milch wurde
damals vom Milchmann mit einem Hand-Leiterwagen ausgefahren. Er klingelte an
den Haustüren und die Bewohner versammelten sich vor seinem kleinen Wagen, auf
dem die großen Kannen standen. Die Milch wurde dann mit einer Schöpfkelle
ausgeteilt. Der Milchmann hieß Metzger. Das gefiel uns Kindern und wir
versäumten nicht, jedem, der uns besuchte zu erzählen, dass wir die Milch vom
Metzger bekommen. Und das Fleisch kaufen wir beim Schneider.
Als die alten
„Metzgers“, bescheidene und fleißige Leut´, gestorben
waren, hatte ihr Sohn, ein großer kräftiger Mann, das Ausfahren der Milch
übernommen. Schon bald danach hatte er festgestellt, dass das viel zu
anstrengend für ihn sei.
So trafen sich
die Nachbarn jeden Morgen in dem kleinen Milchladen. Herr Metzger fühlte sich
als „Märtyrer der Arbeit“ Wie ein
Volksredner stand er hinter der Theke und schilderte seinen Kunden in
eindringlichen Worten, welch schweres Los ihn getroffen habe. Schier unmöglich
sei es, tagtäglich die großen Kannen zu schleppen. An ein „Ausfahren“ sei gar
nicht zu denken!
Ein Nachbar,
Rechtsanwalt Haefelin, ein großer hagerer Mann
begleitete mich auf diesen morgendlichen Spaziergängen ins „Milchlädele“.
Auf dem Heimweg überholte er mich regelmäßig. Mit elastisch federnden Schritten
schwenkte er sein gefülltes Kännchen wie eine Schaukel vor und zurück. Bei
jedem Schwung schwappte etwas Milch auf den Boden. Ich, die hinter ihm her
trottete, dachte „hoffentlich bringt er noch etwas von der kostbaren
Flüssigkeit nach Hause.“
Hörte dann
einmal wie Frau Haefelin, die ihm die Türe öffnete,
bemerkte
„hat’s mal
wieder knapp bemessen, der Milchmann-Metzger, dieser Geizkragen.“
Nicht so
unterhaltsam waren die Einkäufe im Lebensmittelgeschäft, das von den Schwestern
namens Baur, geführt wurde. Die jüngere, von
stattlicher Figur, mit rosig frischem Gesicht, machte einen vitalen
lebensfrohen Eindruck. Die ältere, wesentlich kleiner und schlanker, wirkte auf mich wie eine vertrocknete Pflanze.
Beiden gemeinsam
war der langsame etwas „watschelnde“ Gang, der mich an Enten erinnerte. Und das
Palaver den ganzen Tag. Wenn man es endlich geschafft hatte, in der langen
Warte -Schlange nach vorne zu kommen, musste man noch mal Zeit investieren, um
das nicht endenwollende Gerede anzuhören. Man war dann genauestens informiert,
wer in der Verwandtschaft der Ladenbesitzerinnen wen geheiratet hat, wie viele
Kinder geboren wurden, natürlich alle vielversprechende Talente. Das sah man
den Kleinen schon im Kinderwagen an! Und dann die Krankheiten, die in der
Familie und der Nachbarschaft der Schwestern Baur
aufgetreten waren und wie sie behandelt wurden und dergleichen mehr...
Bei solchen
Einkäufen in Begleitung meiner Mutter, reifte in mir der Entschluss, dass ich
später auf keinen Fall mein Dasein als Hausfrau fristen will. Mit diesen
langweiligen Einkäufen, das Kochen geht ja noch, aber Betten machen, Wäsche waschen, Bügeln,
Strümpfe stopfen und dergleichen. .. so dass keine Zeit für die schönen Dinge
des Lebens bleibt, das Lesen, Musik hören, Musizieren, Theaterspielen,
eintauchen in aufregende spannende Geschichten und sich identifizieren können
mit den handelnden Personen. Das schien mir schon in Kindertagen der Inbegriff
eines erfüllten Lebens zu sein.
Die Alternative
„Tod aus Langeweile.“
***
Der tiefe Eindruck
(überarbeitete
Fassung)
Als der greise Priester seinen 90. Geburtstag feierte, fragte man
ihn, was ihn in seinem langen
Berufsleben am tiefsten beeindruckt hatte.
„Ich habe viele Kinder aus
der Taufe gehoben, habe Ehebündnisse gesegnet und unzählige Tote in die ewige
Ruhe begleitet. Glück und Leid so vieler Menschen habe ich aus nächster Nähe
miterlebt. Das Schwerste aber war, die Traurigen zu trösten.“
Er erinnerte sich an den Fall einer Witwe, die untröstlich war,
als sie ihren Partner verloren hatte. Und mehrmals versuchte, ihrem Mann in den
Tod zu folgen.
„Einmal traf ich sie auf der Brücke. Stundenlang starrte sie in
den reißenden Fluss: „Nicht so werdet ihr eurem Geliebten nahe
sein, nicht so“, mahnte ich.
„Wie denn sonst?“, fragte sie, „da er tot ist und ich lebe?“
Daraufhin besuchte ich sie oft und
sprach mit ihr über Tod und ewiges Leben.
Auch aus den Schriften des Sokrates zitierte ich:
„Niemand weiss, was der Tod ist, nicht einmal, ob er nicht für den Menschen das
größte ist unter allen Gütern.“
Bevor ich sie verließ, versicherte ich ihr:
„Die Toten kehren zurück.“
Eine Zeitlang hatte ich die Trauernde aus den
Augen verloren. Die Jahre vergingen. Dann ganz plötzlich sah ich sie wieder.
Sie war kaum wieder zu erkennen, als sie eines Sonntags nach der Messe auf mich zukam und mit leiser Stimme und einem fast glücklichen Lächeln,
sagte:
„Monsignore, ich habe meinen Mann wieder
gefunden.“
„Ihr habt.. ihn wieder gefunden…? Nun war ich es,
der sie ungläubig ansah.
„Wo habt
Ihr ihn denn gefunden…? “, fragte ich etwas irritiert.
„ In meinem Herzen habe ich ihn wiedergefunden“,
sagte sie.
Der Priester schwieg eine Weile, ehe er gestand:
Diese Frau hat mich tief beeindruckt. Sie ließ
mich wieder an meine eigenen Worte glauben, mit denen ich sie vor Jahren
getröstet hatte.
Ja, das schlichte Bekenntnis der treuen Witwe hat
den tiefsten Eindruck in mir hinterlassen.
***
Wachen und Traum
Noch nehme ich
sie wahr,
die Boten des
Frühlings
Noch trifft
das Zwitschern
der Vögel mein Ohr
Noch erfreut
sich das Auge
an zaghaft
sprießendem Grün
Noch atme ich
berauscht den
Blütenduft
der ersten
Frühlingsboten
Und träume
von der Glut des
Sommers
von goldenen Früchten
im Herbst
Ich träume
von ewiger Ruhe
im Winterschlaf
Auf der Suche nach der Zukunft
Monika warf einen Blick auf den Pressekatalog.
„Keine Ladenhüter, nur Literatur, die dieses Jahr erschienen ist“, stand in
großen Lettern auf der Titelseite. Interessiert mich nicht, dachte sie und warf
den Katalog in den Müll. Literatur, die im nächsten Jahr schon veraltet ist?
Eintagsfliegen. Gehören in die aktuellen Nachrichten. Sie drehte das Radio an
und hörte gerade noch:
Kruzifixe in Klassenzimmern verletzen nach dem
endgültigen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kein
Grundrecht. Es lasse sich nicht beweisen, ob ein Kruzifix an der Wand einen
Einfluss auf die Schüler habe, befanden die Richter am Freitag
Und wenn es einen Einfluss hätte, müsste der denn
negativ sein?
Kruzifixe, erinnerte sie sich, die wurden doch
schon mal aus den Klassenzimmern verbannt. Als sie 1933 eingeschult wurde,
prägte man den Kindern ein: “Jetzt kommt ein Mann, der die Armen von der Straße
holt, der ihnen Arbeit und Brot verschafft…Keiner soll Hunger leiden.“ Er war
der neue Gott. Das Führer- Bild ersetzte in den Klassenzimmern von nun an das
Kruzifix. „Im Kreuz ist Heil“. Daran glaubten unsere Vorfahren,
jahrhundertelang. Dieses „Heil“ beanspruchte nun ein Anderer.
Auch Monika glaubte an ihn, als sie mit 6 Jahren im
Geschichtsunterricht von diesem „gottähnlichen“ Führer erführ.
Als sie dreizehn wurde, begann der Zweite Weltkrieg. Die Menschen hatten Hunger
und kein Brot. Da ist der Glaube an den „neuen Gott“ brüchig geworden.
Und ein paar Jahre später, hörte sie wie die
Nachbarn sagten: „Jetzt holen sie die Juden ab“.„Was machen sie mit den Juden?“
„Wenn wir mit den Juden fertig sind, kommt ihr dran.“ Monika erinnert sich an
die Mitschülerin mit den blonden Zöpfen, die ihr hasserfüllt diesen Satz ins
Gesicht schleuderte. Monika ahnte zu jener Zeit noch nicht, was damit gemeint
war.
Der Hass galt den Katholiken, die das Kreuz
verehrten.
„Das ist nicht recht, was sie mit den Juden machen!
Warum greift der Führer nicht ein?“ fragte ihr Vater, der seine Arbeit bei
einer englischen Firma verloren hatte und nun zu Büroarbeit im Fliegerhorst
verpflichtet wurde. „Warum lässt der Führer das zu? Warum greift er nicht
ein?“, fragte er den diensthabenden Oberst. Dieser meinte, das sei
Kriegsbedingt. Der Führer sei durch die Kriegshandlungen so in Anspruch
genommen…“
Warum lassen sich Menschen so täuschen? Monika ging
zum Bücherschrank, schmökerte in dem alten Goetheband. Las wieder einmal „Wanderers
Nachtlied“:
Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest;...
Und Ein Gleiches:
„ Über allen Gipfeln ist Ruh´ in allen Wipfeln spürest Du
kaum einen Hauch. …“
Die
Balkontür stand offen, sie wollte die Stille unter freiem Himmel genießen. Aber
der Nachbar hatte das Radio an, wollte die Nachrichten nicht verpassen.
Ein bei der
libyschen Stadt Bengasi abgeschossenes Flugzeug hat
offenbar nicht zum Arsenal von Machthaber Muammar el Gaddafi gehört. Es habe
sich um eine Maschine der Aufständischen gehandelt, sagte ein
Rebellenvertreter.
Dann der Bericht aus Fukushima.
Monika träumte in der Nacht von Weltuntergang
und abertausend Verletzten. Fühlte sich am Morgen gerädert. Wollte sich das
Elend von der Seele schreiben.
Wir
wissen zu viel
von
der Welt
Wer
stündlich
die
Nachrichten hört
verliert
seine Träume
diesen
letzten Rest
von
Himmel in uns
Wir
drohen unter
der
Last der Welt
zu
zerbrechen
Einer
versuchte
die
Nachrichten
zu
benoten
„sehr
gut“ gab es nicht
„gut“
äußerst selten
manchmal
„befriedigend“
aber
die „schlechten“ Nachrichten
überdeckten
alles
Wo
sind die
Zwischentöne
geblieben,
die
sanften die leisen
die
unsere Ohren streicheln
und
wie Balsam
unsere
Seele berühren
Wo
die Stille,
erstickt
im Gebrüll
von
Hasstiraden
Wo
das Licht
das
in die Finsternis
leuchtet?
Einer
sagte
ich
will etwas tun
für
eine bessere Welt
Wir
müssen sie realisieren
unsere
Träume,
sagte
er.
Da
ist Hoffnung
dachte
sie
Hoffnung
auf eine Zukunft.
Diese
Hoffnung nahm Monika in den neuen Tag. Sie öffnete die Fenster. Im
Nachbargarten blühten die Magnolienbäume.
****
Der alte Klosterplatz
Lesung am 29. Mai 2014 in Bernau im Schwarzwald
im Rahmen von Christel Steiers interkulturellem Projekt
"connected
Kunst verbindet“
Der alte Klosterplatz, eine Oase der Stille, nur durch einen gepflasterten
Weg am Gewerbebach entlang vom geschäftigen Leben und Treiben der Stadt
getrennt. Drei mächtige Kastanienbäume umsäumen den Platz zur Straße hin, auf
die sich selten ein Fahrzeug verirrt. Ein paar Bänke, die zur Ruhe einladen.
Der gotische Brunnen plätschert vor sich hin, als ob er das schon jahrhundertlang getan hätte. Das immer gleiche Geräusch,
das eintönig die Zeiten überdauert. Dahinter das ehemalige Kloster der
Dominikanerinnen und die kleine Kirche.
Im Schatten der
Kastanien sitzt die zarte kleine Frau, die vom Altenwohnstift gegenüber, die
paar Schritte über die Straße gerade
noch schafft.
Vor der vertrauten Kulisse lässt sie ihr Leben Revue passieren. Während der
Wind sanft durch ihre weiß gewordenen Haare streicht und eine Strähne in ihr
Gesicht weht, fallen zögernd einzelne Blätter von den Bäumen. Blass gelb und
transparent, die feine Maserung bloßlegend. Martha schaut auf ihre Hände und
bemerkt, auch sie sind durchsichtig geworden. Durch die dünne Haut schimmert
das Geflecht blauer Adern.
Ihr Blick streift das Kirchenportal gegenüber. Vor langen Jahren besuchte
sie dort die Gottesdienste, die für die Schülerinnen der Mädchen -
Oberrealschule abgehalten wurden. Und den Religionsunterricht. Eine kleine
Gruppe traf sich regelmäßig in der Kapelle des alten Klosters. Diese Treffen
fanden heimlich statt, denn offiziell waren sie in jenen Jahren des 2.
Weltkrieges nicht erlaubt.
Durch das Geäst der Bäume fällt das milde Licht der Abendsonne. Zweige und
Blätter werfen ihre Schatten auf den Boden, die wie Scherenschnitte aussehen.
Plötzlich überkommt Martha dieses Heimweh nach ihrem Paul. In den letzten
Tagen des Krieges ist er gefallen. Erinnerungen wachsen aus den dunklen
Träumen. Die Vergangenheit wird mächtig. Die langen Jahre ohne ihren geliebten
Paul. Sie hatten nicht viel von einander gehabt. Ein kurzes Glück und die
Sehnsucht, die geblieben ist bis heute. Und die beiden Kinder.
Die Freude überkommt sie wie einstmals, als die Säuglinge weich und warm in
ihrem Schoß lagen. Eins mit ihr. Dann das Heranwachsen. Die Bärbel, das
fröhliche Mädchen, der kleine Paul, der seinem Vater so ähnlich sah.
Martha. erlebt das noch einmal in
ihren Gedanken. Das Glück. Den Schmerz. Die langsame Entfremdung der Kinder,
ihr erwachsen werden. Jede Phase ihrer Entwicklung, jeder Neubeginn war auch
ein Abschied von Nähe und Vertrautheit, ein sich entfernen aus der mütterlichen
Geborgenheit. Das war aufregend und
schmerzlich zugleich.
Klein Paule hatte Schwierigkeiten ohne Vater
aufzuwachsen. Zum Glück gab es den Onkel Peter. Ein verrücktes Haus. Ach, was
hätte sie nur ohne ihn machen sollen? Diesen kauzigen, eingefleischten
Junggesellen, der es so gut mit ihren Kindern verstand. Zudem sah er auch noch
gut aus, hatte dunkles krauses Haar und braune Augen, die einem so
verständnisvoll ansehen konnten. Er war sehr lässig gekleidet, hielt nicht
allzu viel von der äußeren Aufmachung. Seine große Leidenschaft galt der
Malerei und dem Kunstunterricht. Martha hätte sich keinen besseren Lehrer
vorstellen können. Was hatten sie Spaß miteinander zu malen, zu dichten, sich
gegenseitig zu entdecken. Regelmäßig an den Wochenenden tauchte Onkel Peter
auf. Man konnte alle großen und kleinen Sorgen mit ihm besprechen und fast
immer wusste er Rat. Für Paul-chen wollte er eine Privat-Kunstschule gründen,
wie er eines Tages scherzhaft verkündete. Diese Idee wurde mit so viel
Begeisterung aufgenommen, dass auch Martha und Bärbel sich entschlossen den Malunterricht
mitzumachen. Wenn sie mal keine Lust zum Malen hatten, führte sie Peter durch
eine der zahlreichen Galerien und weckte somit ihr Verständnis für die Kunst.
Martha erinnert sich noch heute daran, wie plötzlich eine Tür für sie aufging,
als Peter sagte:
„Weißt du, das Wesen des künstlerischen Gestaltens ist spontaner Ausdruck
menschlichen Erlebens. Der Betrachter
erfährt die gleichen Gefühle, die den Künstler zum Schaffen des Bildes
oder der Dichtung zwingen. Die Kunst baut Brücken von Mensch zu Mensch.“
Während er das
sagte, drückte er sie sanft an sich.
„Eine Schule
des gegenseitigen Verstehens also“, erwiderte sie lächelnd.
Ja, es war mehr
als Dankbarkeit, was sie mit dem Bruder ihres verstorbenen Mannes verband.
Im Nachhinein wird ihr das erst richtig klar. Durch seine Bilder wurde sie
in die Art und Weise seines Erlebens unwiderstehlich hineingezogen. Nicht die
leidenschaftliche Liebe, die sie für ihren Paul empfunden hatte, überkam sie,
„Aber es ist ein großes und seltenes Glück
einen anderen Menschen zu erkennen“,
denkt sie, und
nach einer Weile fügt sie in ihren Gedanken hinzu: „Es ist fast unmöglich,
einen Menschen nicht zu lieben, den man versteht.“
Aber sie weiß
auch, dass ein Menschenleben meist viel zu kurz ist, um den Anderen wirklich zu
verstehen.
Im Gesicht der Greisin spiegelt sich der sanfte Glanz der herbstlichen
Sonne. Das Leuchten in ihren Augen schwindet nicht mit der hereinbrechenden
Dämmerung... Es wird nur für die
Vorübergehenden unsichtbar.
***
Link zur Besprechung
meiner Lesung im Café Mozart am 10. Mai: "Louisiana, das Straßenmädchen"